Der Rest ist Österreich – die Gründung der Ersten Republik
von Michael Rosecker
In den katastrophalen Ereignissen des Ersten Weltkrieges zerbrach im Herbst
1918 die Habsburgermonarchie. Am 21. Oktober 1918 traten die
Reichstagsabgeordneten der deutschsprachigen Wahlkreise zusammen und
konstituierten sich als Provisorische Nationalversammlung für
Deutschösterreich. Der Sozialdemokrat Karl Renner, der bei den bürgerlichen
Parteien den Ruf eines verlässlichen, kooperationsbereiten und konstruktiven
Politikers hatte, wurde zum Leiter der Staatskanzlei bestellt. Schließlich schuf
er in einer chaotischen Situation durch rege Aktivitäten und umsichtige
Politik die rechtlichen Grundlagen für einen Neuanfang. Durch seine
Bereitschaft, große Verantwortung zu übernehmen, fiel ihm das Amt des
Staatskanzlers zu. Am 12. November wurde die demokratische Republik
Deutsch-Österreich ausgerufen. Die neue Republik war jedoch ein belasteter
Staat. Wirtschaftlich erschöpft durch den Krieg, mit unklaren Grenzen, politisch
tief gespalten und ohne Vorstellung von einer eigenen Identität oder Position in
Europa wurde mit der Ausrufung auch gleich der Zusammenschluss mit der
neuentstandenen deutschen Republik beschlossen.
Aus den Wahlen zur konstituierenden (verfassungsgebenden) National-
versammlung am 16. Februar 1919, erstmals durchgeführt mit dem
allgemeinen gleichen Wahlrecht für Männer und Frauen, ging eine
Koalitionsregierung aus Sozialdemokratischer Arbeiterpartei und Christlich-
sozialer Partei hervor. Karl Renner wurde Staatskanzler und Jodok Fink
Vizekanzler. In seiner Anfangszeit vollzog der junge Staat unter
sozialdemokratischer Führung große fortschrittliche Reformen durch.
Sozialpolitische Reformen wie z.B. die Einführung des Acht-Stunden-Tages
oder die Schaffung einer Arbeitslosenversicherung schufen die Grundlagen
eines Sozialstaates. Eine moderne Verfassung von Hans Kelsen (unter von
Renner formulierten Vorgaben)versuchte die rechtsstaatliche Demokratie
in Österreich zu festigen.
Karl Renner wurde am 8. Mai 1919 zum Leiter der Friedensdelegation in Saint
Germain bestellt. Hier wurde der junge österreichische Staat (und seine
Verbündeten) mit der alleinigen Kriegsschuld belastet, mit
Reparationszahlungen belegt und der Anschluss an Deutschland untersagt.
Für viele schien der neue Staat als ein „wirtschaftlich schlechthin
unmögliches Gebilde“ (Otto Bauer).
Die junge Republik verlor deutschsprachige Gebiete in „Deutschböhmen“,
„Deutschmähren“, in Niederösterreich, das „Sudetenland“, und schließlich
Südtirol. Jedoch erhielt sie Deutsch-Westungarn (das Burgenland) und
konnte die Einheit Kärntens durch Volksabstimmung erhalten. Renner
empfahl dem Parlament den Friedensvertrag zuzustimmen. unter großem
Protest kam es diesem Rat letztlich auch nach. Renner unterzeichnete den
Staatsvertrag am 10. September 1919 in Saint Germain, ein Vertrag der
seinen Blick mehr auf das Geschehene als auf das Kommende richtete.
Im Sommer 1920 zerbrach die rot-schwarze Koalition. Renner nahm sich
in den folgenden Jahren politisch zurück. Im Parlament ergriff er
dennoch oft das Wort, beteiligte sich an den Richtungs- und Programm-
debatten der Sozialdemokratie, publizierte rege, hielt laufend Vorträge,
widmete sich dem Genossenschaftswesen und initiierte 1922 die Gründung
der Arbeiterbank AG.
Ereignisse wie der Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927, die Militarisierung
des Parteiensystems, politische Gewalt, die immense Wirtschaftskrise und
die damit verbundene Arbeitslosigkeit führten zur Polarisierung der politischen
Lage und schließlich zu einer bewaffneten Eskalation. Diese Zuspitzung holten
den an Ausgleich und Kooperation orientierten Renner zurück in die Tagespolitik.
Bei den letzten Nationalratswahlen in der Ersten Republik 1930 wurden die
SDAP mit 41,1 Prozent stärkste Partei und stellten daher den Präsidenten des
Nationalrates. Am 29. April 1931 wurde Karl Renner in dieses Amt gewählt. In
den Jahren 1928 und 1931 war Renner erfolgloser sozialdemokratischer
Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten.
Am 20. Mai 1932 wurde Engelbert Dollfuß in einer Zeit der schweren
Wirtschaftskrise, der damit verbundenen hohen Arbeitslosigkeit und der
Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung Bundeskanzler. Er lehnte
eine Zusammenarbeit mit der SDAP ab. Die Nationalsozialistische Partei gewann
erstmals mehrere Wahlen und ein Teil des bürgerlich-bäuerlichen politischen
Spektrums begann die Errichtung eines autoritären Regimes als Option anzuer-
kennen. Die niederösterreichischen Landesorganisation der österreichischen
Heimwehrbewegung hatte bereits 1930 im Zuge des „Korneuburger Eides“
die Beseitigung des „westlichen demokratischen Parlamentarismus“
propagiert. Am 4.März 1933 kam es in Folge einer Auseinandersetzung um eine
parlamentarische Geschäftsordnungsfrage zum Rücktritt aller drei Nationalrats-
präsidenten. Auf Drängen seiner Fraktion legte Renner als erster sein Amt nieder.
Dollfuß nutze diese Geschäftsordnungskrise, um die parlamentarische Demokratie
in Österreich schrittweise zu beseitigen. Mit Polizeigewalt wurde der Versuch des
erneuten Zusammentretens des Nationalrates verhindert. Das noch immer gültige
kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1917 gab ihm nun die
Möglichkeit, mit Notverordnungen zu regieren. Pressezensur, Einschränkungen
der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, Aussetzung aller Wahlen und
die Errichtung von „Anhaltelagern“ waren die Folge.
Nach einem kurzen aber blutigen Bürgerkrieg zwischen Sozialdemokratie auf
der einen, Bundesheer, Polizei und Heimwehren auf der anderen Seite
(Februar 1934), der Erlassung einer autoritären Verfassung und der brutalen
Errichtung eines sich am faschistischen Italien und an der Enzyklika
Quadragesimo anno von Papst Pius XI orientierten Staatswesens, endete
blutig und bitter die Erste Republik.
Gesetzesantrag über die Staats-
und Regierungsform 1918
Regierung Renner 1919
Von der Nationalversammlung
beanspruchtes Staatsgebiet
Deutsch-Österreichs
Österreichs Delegation in St. Germain
(Karl Renner sitzend-Mitte)
so sahen die Karikaturisten die unerbittliche
und haßerfüllte Verhandlungsfürung Clemenceaus
Renners Vermittlungsversuche
in der Tagespolitik
Eröffnung Wiener Stadion Juli 1931
Miklas, Seitz, Renner und Hainisch
Bericht über die Sitzung
des Nationalrates
Dieses „vergessene Gesetz“ aus der
Monarchie ermöglichte der Regierung
Dollfuß ohne Parlament zu arbeiten
(Soweit nicht anders angegeben, stammen die Fotos/Kopien aus dem Renner-Archiv)