Vom übernationalen Staat zum vereinigten Europa
Die internationale Spannweite der Sozialdemokratie
animierte Renner 1910 zu Denkanstößen für eine
„Organisation der Welt“. Renner beklagte die Aufteilung
der Welt in Nationalstaaten, die durch den Kapitalismus
ihre weltverbindende Funktion verloren hätten und von
Gegensätzen bestimmt seien. Der Nationalstaatsgedanke
sei überholt, wirtschaftliche und kulturelle
Gemeinsamkeiten würden sie zu großen Staaten vereinen.
Jede Nation solle ihr eigenes Haus haben, aber alle
Nationen sollen miteinander eine Weltgemeinschaft
bilden.
Renner hatte sich nicht bloß von der Friedens-
begeisterung der sozialistischen Internationale mitreißen
lassen, er trat in Folge der militärischen Teilerfolge der
Mittelmächte streitbar für ein deutsch dominiertes
Mitteleuropa im Sinne Friedrich Naumanns ein. In
„Österreichs Erneuerung“ argumentierte Renner, die
Geschichte dränge nach übernationalen Gestaltungen.
Das bestehende politisch-militärische Bündnis der
Mittelmächte solle zu einer Zollunion ausgestaltet
werden. Man solle den Krieg für eine supranationale
Ökumene nutzen.
Rest-Österreich schielte 1919 nach dem „Anschluss“ und
sollte sich nach den Vorstellungen von Staatskanzler und
Außenminister Karl Renner in keine einzige europäische
Affäre mehr verwickeln lassen. Die völlige Herauslösung
aus den Banden der früheren Monarchie hielt er daher für
notwendig. Wie der Tscheche Edvard Benes suchte er
nach einer gemeinsamen Politik der kleinen Entente.
Beeindruckt war Renner von den Sympathien Nittis in
Italien, der als einziger Staatsmann die Notwendigkeit
einer europäischen Union erkannt hätte.
Österreich sollte nach den Vorstellungen Renners weder
Grossmachts- noch Nachbarschaftspolitik machen,
sondern ausschließlich Völkerbundpolitik. Die
Mitgliedschaft war für ihn eine wesentliche
Lebensbedingung. Der Völkerbund, der eigentlich die
ganze Welt verwalten sollte, werde eine Teilsouveränität
über die Mitgliedstaaten ausüben. Organisatorisch
kritisierte Renner das Fehlen einer Weltkongress-Struktur.
Letztlich diene der Völkerbund mit den bekannten
Vorrechten dem „jauchigen Imperialismus“ der
Westmächte.
Der Idee des Pazifisten Richard Coudenhove-Kalergi, das
Abendland durch Schaffung einer politisch handlungs-
fähigen europäischen Nation zu erneuern, konnte Renner
manches abgewinnen. Coudenhove sprach europäische
Politiker persönlich um Unterstützung an und wurde in
Österreich besonders fündig. Gemeinsam mit Seipel und
Dinghofer bildete Renner ein nationales Präsidium.
Renner sah in Paneuropa anfänglich das bedeutendste Tor
in eine bessere Zukunft, später reduzierte er sie zur
Reaktion auf die vielen Gegensätze in Europa.
Ab 1945 warb Renner für Österreichs Souveränität als
eine europäische Aufgabe und setzte diesbezüglich große
Hoffnungen in die Vereinten Nationen. Österreich wolle
sich weder nach Osten noch nach Westen binden, sondern
der UNO eingliedern und die Mitte halten. Mit der UNO
stehe und falle das Schicksal Österreichs. Österreich
könne eine Schlüsselzone für den Weltfrieden sein und
sei daher UNO-gläubig. Renner bot der UNO sogar die
Treuhandschaft über Österreich an, so dass Österreich ein
Mandatsgebiet der UNO werden hätte können.
Der österreichische Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky hat
einmal gesagt:
„Dr. Karl Renner, und das wird immer wieder vergessen,
wäre auch – hätte man seine politischen Ideen befolgt
und wäre man eher bereit gewesen seitens der führenden
Staatsmänner der Monarchie auf seine Gedanken
einzugehen, wahrscheinlich der Architekt eines großen
Bundesstaates in der Mitte Europas und in Südost-Europa
geworden. Er wäre der Begründer einer mitteleuro-
päischen Wirtschaftsgemeinschaft. Und ich möchte
feststellen, es hätte dann keinen Ersten Weltkrieg
gegeben.“
Dr. Karl Renner - Museum für Zeitgeschichte, Rennergasse 2, 2640 Gloggnitz - Mail: office@rennermuseum.at - Tel: 02662/42498
Karl Renner (ca. 1905)
Österreichische Regierungs-
delegation in Rom - Juli 1920
Flagge der Vereinten Nationen
EU - Flagge
Dr. Bruno Kreisky
(aus dasrotewien.at)
Karikatur aus dieser Zeit
(Soweit nicht anders angegeben, stammen die Fotos/Kopien aus dem Renner-Archiv)